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Projektbeschreibung Dissertationsprojekt

Magdalena Müller M.A. / Doktorandin bei Frau Prof. Dr. Birgit Studt, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Theorie und Praxis gelehrten Wissens:
Der Freiburger Gelehrte Nicolaus Matz (ca. 1443–1513) aus Michelstadt in der spätmittelalterlichen Wissenskultur

Die Gelehrtenforschung stellt ein etabliertes und sehr lebendiges Forschungsfeld dar, das neuerdings Universitäts- und Wissensgeschichte miteinander verbindet. Untersuchungen auf diesem Gebiet können über gelehrte Lebenswege und Karrieren hinaus weitere, epistemologische Aufschlüsse bringen. Die bisherige Forschung sieht die universitäre Landschaft sowie die Gelehrtenkultur des Spätmittelalters in erster Linie von herausragenden Persönlichkeiten mit erfolgreichen Karrieren geprägt. Die Folie, vor der diese Elite eingehend erforscht worden ist, war eine breite Schicht von Akademikern, deren universitäres und gesellschaftliches Wirken bisher – abgesehen von bekannten gelehrten Juristen und humanistischen Oratoren – keine adäquate Beachtung gefunden hat. Abseits großer Namen, Karrieren und bedeutender Werke prägten ‚gewöhnliche' Gelehrte als Dekane, Inhaber von Professuren oder relevanter – wenn auch nicht lukrativer – Funktionen in Kirche und Politik den universitären Alltag und trugen ihr Wissen in die Gesellschaft ihrer Zeit. Zu ihnen gehört Nicolaus Matz (ca. 1443–1513), Magister der Universitäten Wien und Freiburg im Breisgau, Theologe und schließlich Sexpräbendar im Bistum Speyer. 1499 stiftete Matz seiner Heimatstadt Michelstadt seinen 117 Bände umfassenden Bücherbesitz – einschließlich handschriftlicher Notizen, Gutachten und Traktate –, in welchem sich sein Wissensbestand bis heute beinahe unverändert konserviert hat. Im Dissertationsvorhaben wird ausgehend von diesem Buchbestand und seinem Stifter die praktische Anwendung gelehrten Wissens untersucht und in die Wissenskultur seiner Zeit eingeordnet. Ziel der geplanten Untersuchung ist es, die Entfaltung kultureller, sozialer und politischer Reichweiten universitärer Bildung jenseits des gelehrten Höhenkamms zu beschreiben. Dabei wird das in der Bibliothek konservierte theoretische Wissen in einen Zusammenhang mit den praktischen Tätigkeiten des Nicolaus Matz im Bistum Speyer und in Michelstadt, aber auch in den Kontext der landesherrlichen Universitätsgründung in Freiburg gebracht. Die Untersuchung kann aufgrund fehlender Überlieferung keine autobiographischen Zeugnisse hinzuziehen, doch ist es möglich, neben weiteren, bislang unbeachteten Überlieferungszeugnissen vor allem aus den Buchbiographien seinen gelehrten Lebensweg nachzuvollziehen. Zur Einordnung der Befunde sollen Nicolaus Matz weitere Gelehrte der ‚mittleren Reihe' und der Niederschlag ihrer Tätigkeiten in ihren Büchersammlungen bzw. –legaten in einem kursorischen Vergleich an die Seite gestellt werden.

Die von Matz gestiftete Bibliothek in Michelstadt ermöglicht einen Blick in die fast unberührte Arbeitspraxis eines Gelehrten des späten 15. Jahrhunderts. Dieses wichtige kulturelle Erbe ist bislang nicht in ausreichender Tiefe erschlossen worden. Die angesichts dieses schwierigen Erschließungsstandes notwendigen umfassende Grundlagenarbeit ist im Rahmen eines Dissertationsprojekts jedoch nicht möglich. Daher ist es für die Durchführung des Vorhabens geboten, einen sinnvoll zu bearbeitenden Ausschnitt aus der Überlieferung für die Analyse zu bestimmen und einzelne Probebohrungen vorzunehmen. Im Zentrum der Untersuchung steht daher die Michelstädter Handschrift D 693, die innerhalb der Matz-Bibliothek als Arbeitshandschrift des Gelehrten eine Sonderstellung einnimmt. Diese umfangreiche und aus unterschiedlichen Heften und Faszikeln bestehende, aber absichtsvoll zusammengestellte und in Matz' Auftrag gebundene Sammelhandschrift haben Staub und Staub als Sermones et varia a Nicolao Matz collecta bezeichnet, die zeitgenössische Rückenbeschriftung des Bandes lautet nur Sermones. Der Codex wurde in Speyer oder Heidelberg gebunden und kam vermutlich nach 1504 nach Michelstadt (Staub/Staub 1999, S. 54), begonnen wurde mit der Kompilation aber vermutlich bereits in Wien – der Entstehungszeitraum reicht von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts. Ausweislich von Matz' handschriftlichen Einträgen entstanden einige der Textzeugnisse während seiner Zeit in Speyer, wie ein Schreiben von 1494 an den Speyerer Generalvikar Philipp von Rosenberg-Gnötzheim (†1534) (D693, fol. 383) oder die Selbstnennung Nicolaus Matz als sexprebendarius ecclesie Spirensis (D693, fol. 395) zeigen, vorhandene Datierungen decken die Zeit von 1481 bis 1504 ab. Die Handschrift enthält zum einen Abschriften von beispielsweise Predigten von Nikolaus von Dinkelsbühl, Johannes Geuß und Peregrinus von Oppeln, zum anderen enthält sie Matz' eigene Entwürfe, Gutachten, Quaestiones, Traktate sowie Materialsammlungen und Notizen zu bestimmten Themen (wie Exkommunikation, Passion oder Sonntagsmarkt) oder bekannten Theologen und deren Predigten. Anhand der teilweise sehr kurzen Transkriptionen der Incipits im Katalog kann nicht immer auf das Thema eines Abschnittes geschlossen werden, da die Transkriptionen nach wenigen Wörtern abbrechen und kein Textverständnis ermöglichen. Doch so viel lässt sich bereits jetzt feststellen: Diese Texte praktisch-theologischen Inhalts zielen auf eine – u.a. von den Humanisten im Umkreis etwa von Jakob Wimpfeling geforderte – Reform des Seelsorgeklerus und weisen zwei inhaltliche Schwerpunkte auf: Zum einen sollte der in der Seelsorge tätige Klerus in die Lage versetzt werden, die Liturgie in korrekter und angemessener Weise zu feiern sowie die Bedeutung der vollzogenen Akte verstehen. Zum anderen ging es darum, den Pfarrern die nötigen Kenntnisse zu vermitteln, um aktuellen Problemen der christlichen Lebensführung in der Unterweisung der Laien und in der Beichtpraxis begegnen zu können. Daher spielen Fragen der christlichen Wirtschaftsethik wie Eigentum, Besitz und Rechtsansprüche, Kauf und Verkauf eine wichtige Rolle – auch in der Sammelhandschrift D 693. Dies zeigt den Zusammenhang mit der Frömmigkeitstheologie des 15. Jahrhunderts: Durch die „Laisierung der Theologie" wurde die Seelsorge auf die Bedürfnisse der Gläubigen zugeschnitten.

Link zum Digitalisat der Handschrift Michelstadt, D 693: doi.org/10.11588/diglit.58915

 


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