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Der Prozess der Entscheidungsfindung in politischen Versammlungen des Mittelalters

Dr. Michiel Decaluwé

DFG-Projekt (Sachbeihilfe / Eigene Stelle; Laufzeit ab 1.2.2010)

Das Projekt untersucht den Prozess der Entscheidungsfindung in politischen Versammlungen des Mittelalters, beispielsweise Konzilien oder Hoftagen. Einerseits wird gefragt, wie sich das westliche Denken über Entscheidungsfindung, beeinflusst vom Christentum, von römischem, kanonischem und germanischem Recht, von päpstlichen Machtansprüchen, Aristotelischer Philosophie, Theologie und von dem Machtausbau städtischer Eliten entwickelt hat. Anderseits wird an Hand konkreter Beispiele, wie der Entscheidung über die Trinität, der Einigung Karls IV. mit den Fürsten des Reiches in der Goldenen Bulle auf den Hoftagen in Nürnberg und in Metz 1356 oder der Einigung auf dem Konzil von Konstanz auf das Dekret Haec sancta 1415, untersucht, wie Entscheidungen auf unterschiedlichen politischen Versammlungen tatsächlich zustande gekommen sind. Ziel ist es, einen Teil der Geschichte des Prozesses der Entscheidungsfindung – des decision making – auf politischen Versammlungen zu untersuchen und zu einer Antwort auf die Frage zu kommen: „Wie konnten große politische Versammlungen im Mittelalter Entscheidungen im Konsens in wichtigen politischen Fragen erreichen?“


 

Der Prozess der Entscheidungsfindung auf politischen Versammlungen des Spätmittelalters

Mit dem Projekt ist beabsichtigt, den gedanklichen Prozess der Entscheidungsfindung auf politischen Versammlungen des Spätmittelalters zu untersuchen. Die Frage „Wie kann eine große politische Versammlung zu Entscheidungen kommen?“ wird anhand von sechs Entscheidungen bzw. Entscheidungsprozessen untersucht. Auf der einen Seite werden die konkreten Entscheidungsvorgänge, die in den Akten nachzuvollziehen sind, herausgestellt. Auf der anderen Seite werden diese sechs als Entscheidungsfindungsprozesse betrachtet, die erst richtig verstanden werden, wenn deutlich wird, dass sie historische Voraussetzungen und Bedingungen haben. 

Der Prozess der Entscheidungsfindung wird durch zwei Fragen beeinflusst: Erstens „Wie sollte eine Entscheidung gefasst werden?“ und zweitens „Wie konnte eine Entscheidung gefasst werden?“ Obwohl diese beiden Fragen klar von einander trennbar sind, stehen die Antworten auf die Fragen in einem deutlichen Bezug zu einander, beeinflussen sie sich doch gegenseitig. Zum einen beeinflusst die Antwort auf die Frage „Wie sollte eine Entscheidung gefasst werden“ die Antwort auf die Frage des Könnens indem sie diese, sowohl auf bewusste als auch auf unbewusste Art, begrenzt. Wenn ein Herrscher beispielsweise weiß, dass er die Möglichkeit, Gewalt anzuwenden, um seine Entscheidung durchsetzungsfähig zu machen, nicht benutzen sollte (weil Gewalt kontraproduktiv wirken könnte), klammert er die Möglichkeit, Gewalt auszuüben, in seinen Überlegungen aus. Zum anderen beeinflusst die Antwort auf die Frage „Wie konnte eine Entscheidung gefasst werden?“ auch die Antwort auf die Frage des Sollens. Auch wenn ein Herrscher Gewalt hätte benutzen dürfen, klammert er die Möglichkeit aus, wenn er einfach zu schwach ist, um Gewalt anzuwenden. Die Antworten auf beide Fragen erweitern oder begrenzen, sowohl auf bewusste als auch auf unbewusste Weise, die möglichen Gedanken, die zu einer Entscheidung führen. Sie bilden, wenn man es metaphorisch ausdrücken möchte, einen Rahmen - wir nennen dieses Phänomen einen „Denkrahmen“. Anhand des Konzepts der „Denkrahmen“ werden die sechs Fälle mit einander verglichen. 

Die sechs ausgewählten Fälle kommen aus drei unterschiedlichen Bereichen. Zwei Fälle kommen aus dem kirchlichen Bereich: die Entscheidung über das Wahlverfahren des Konklave auf dem zweiten Konzil von Lyon (1274) und die Einigung auf das Dekret Haec sancta auf dem Konstanzer Konzil (1415). Zwei weltliche Fälle sind den Reichsversammlungen entnommen: die Einigung Karls IV. mit den Fürsten des Reiches in der Goldenen Bulle auf den Hoftage in Metz und Nürnberg (1356) und die Entscheidung über Struktur und Verfassungsordnung des Heiligen Römischen Reiches auf dem Reichstag zu Worms (1495). Weitere zwei Fälle sind dem städtischen Bereich entnommen. Hier werden Entscheidungsprozesse im Florenz des späten 13. Jahrhunderts und Entscheidungsprozesse der „Glieder von Flandern“ im 15. Jahrhundert untersucht.